Mit dem mehrjährigen projekt bauhaus haben wir die Ideen des Bauhauses einer grundlegenden Revision unterzogen. In diesem Zuge sind nicht weniger als drei ARCH+ Ausgaben entstanden. Fragte die erste von ihnen Kann Gestaltung Gesellschaft verändern?, bestimmte die zweite unter dem Titel Architekturen der Globalisierung einen neuralgischen Punkt zwischen Globalisierung und lokaler Selbstbestimmung als Schauplatz der Architektur von heute. Abschließend diskutiert nun das vorliegende Heft Datatopia eine höchst dringliche Problematik: Stellt die umfassende Datafizierung unserer Gesellschaften die althergebrachten kulturellen und politischen, ökonomischen und ökologischen Systeme grundsätzlich infrage?
Als wir vor vier Jahren mit dem Projekt begannen, schrieben wir: „Die Expansion der Gestaltung in alle Lebens- und Weltbereiche, von den Landschaften, Straßen und Städten bis hin zu den Arbeitsplätzen, der Wohnung und tiefer hinein in die Personen und ihre Beziehungen, in Nanostrukturen und Genome ist gegenwärtige Realität. Vor dem Hintergrund dieser Ästhetisierungen und Subjektivierungen von Herrschaft wäre im allgegenwärtigen Überfluss von Gestaltung möglicherweise deren Abwesenheit ein befreiendes Moment.“
Wäre Abwesenheit von Gestaltung tatsächlich befreiend? Solange unter Gestaltung lediglich Ästhetisierung verstanden wird, hat die These sicherlich ihre Berechtigung. Doch was wäre, wenn Gestaltung mehr umfasste? Was, wenn wir eine Kritik der Gegenwart, deren Komplexität wir ohne Technologie nicht mehr verstehen können, nur mithilfe von Gestaltung formulieren könnten?
Wissen, Technik, Fortschritt
Im Selbstverständnis der Klassischen Moderne kam dem Politischen die herausgehobene Rolle zu, das Universelle zu formulieren und zu gestalten. Das Politische des Bauhauses lag also darin, die Gestaltung des Allgemeingültigen, sprich die Durchsetzung eines normativen Ideals, zu propagieren, und zwar im Namen des (gesamt)gesellschaftlichen Fortschritts. Nur so kann man die Ästhetik der Moderne als politisches Programm begreifen, auch wenn in der Folge ein Stil und ein globales Produkt daraus wurde. Und genau darauf zielen die Neuen Rechten heute, wenn sie die Moderne insgesamt als gleichmacherisch denunzieren und einen Kulturkampf zugunsten einer historistischen Rekonstruktion ausrufen. Dies ist keine Frage der ästhetischen Präferenz, sondern zutiefst politisch zu lesen.
Doch das moderne Ideal der Gleichheit ist nicht erst seit dem Aufkommen des Rechtspopulismus in der Krise. Vielmehr ist diese „Krise des Allgemeinen“, so der Soziologe Andreas Reckwitz, bereits ein Kennzeichen der Postmoderne. Während die Moderne politisch und ästhetisch gewissermaßen als die Einübung eines „doing universality“ gedeutet werden könne, regiere heute das Paradigma des „doing singularity“. Wir leben in einer „Gesellschaft der Singularitäten“, wie auch der Titel seines erhellenden Buches lautet, aus dem wir in dieser Ausgabe einen Auszug abdrucken.
Angesichts der Krise des Allgemeinen ist die Arbeit an universellen Prinzipien, an allgemeinverbindlichen Normen und gemeinsam geteilten Gütern wieder gefragt, wie wir in ARCH+ 230 Architekturen der Globalisierung und ARCH+ 232 An Atlas of Commoning gezeigt haben. Doch statt unkritisch an das „doing universality“ der Moderne anzuschließen und die damit verbundenen Fehler zu wiederholen, gilt es heute, ein „doing in common“ als politische Agenda einer reflexiven Moderne zu behaupten. Nur so kann die Gesellschaft an den Politiken der Gestaltung teilhaben, und nur so ließe sich Gestaltung als politisches und emanzipatorisches Instrument reaktivieren – als Gegengewicht zu den regressiven und reaktionären Kräften, die sich derzeit in allen Bereichen der Gesellschaft breitmachen.
Auf der anderen Seite ist uns nicht ohne Grund der Glaube an den Dreiklang Wissen, Technik und Fortschritt sowie an die Verbesserung durch Innovation abhandengekommen. Das „Neue“ hat seine Unschuld verloren. Denn obwohl der wissenschaftliche und technische Fortschritt disruptiv wirkt, indem er neue Subjektivitäten schafft, gesellschaftliche Systeme verändert, ideologische Narrative und geopolitische Ordnungen verschiebt, führt dies in der Gesellschaft nur zu eingeschränkten sozialen Verbesserungen. In gleicher Weise müssen wir hinsichtlich der politischen Situation fragen: Entstehen die gegenwärtigen, rückwärtsgewandten politischen und ideologischen Trends trotz oder wegen der Fortschritte in der Informationstechnologie?
Wir erleben momentan die Entstehung von Gesellschaftsformationen, Denkweisen und Lebensarten, die ohne den Computer nicht fassbar wären. Datenbasierte Prozesse, in denen alles – von Orten, Objekten, Formen, Oberflächen und Materialien bis zum menschlichen Körper – kodiert, transkodiert und rekodiert wird, münden in einer Datengesellschaft, die nicht mehr auf tradiertem Wissen basiert, sondern in der das Sammeln, die Interpretation und Nutzbarmachung von Daten die Grundlage des Gesellschaftlichen bilden. Wie wird sich unsere Lebenswelt verändern, wenn unser materielles und kognitives Handeln immer mehr von Automatisierung und künstlicher Intelligenz übernommen wird?
Datatopia
Im Rahmen von projekt bauhaus Werkstatt / Summer School Datatopia in Kooperation mit dem Fachgebiet Architekturtheorie des KIT haben wir die genannten Themen in der Floating University von raumlaborberlin behandelt (siehe ARCH+ features 83). Wir haben diesen Ort bewusst gewählt, weil er nicht nur ein passiver Ort des Lernens, sondern aktiv als Lehrobjekt wirksam war, das andere Formen der Zusammenkunft bedingte und formte. Es ging dabei vor allem um die Frage, welche neuen ästhetischen, räumlichen, sozialen und politischen Kulturformen derzeit in einer auf Daten basierenden Gesellschaft entstehen. Unser Ziel war es, konkrete gesellschaftliche Auswirkungen abstrakter technischer Abläufe offenzulegen und verständlich zu machen.
Durch neue Möglichkeiten der informationstechnologischen Speicherung, Verwaltung, Bearbeitung und Übertragung setzte sich nach der Kybernetisierungswelle in der Mitte des 20. Jahrhunderts der Datenbegriff gegenüber dem wissenschaftstheoretisch tradierten Messwertbegriff durch und verselbständigte sich, wie Dirk Baecker ausführt. Heute können Daten in großen Mengen erhoben, abgelegt, gespeichert, ausgewertet, verbreitet, verkauft, gefälscht, interpretiert, übertragen, gesichert, geschützt, aufbereitet oder kombiniert werden. Als Instrument des wissenschaftlichen Arbeitens organisieren sie Erkenntnisfelder und institutionalisieren epistemische Praktiken; als Betriebs- und Rohstoff wissensbasierter Ökonomien sind sie eine hochbegehrte Ressource. Wenn sich Daten verändern, können sie entweder vor der Zukunft warnen oder bessere Zeiten versprechen, wie T’ai Smiths Beitrag eindrucksvoll unter Beweis stellt. Technische und soziale Fragen können miteinander zur Deckung gebracht werden, wodurch sich bestehende Ungleichheitsordnungen verändern und eine neue Hierarchie entsteht, so das Interview mit Alex Pentland. Daten haben also sowohl ein prognostisches als auch ein utopisches Potential und zeichnen sich durch einen beinahe universellen Entstehungs- und Verwendungspluralismus aus. Dementsprechend tiefgreifend ist der daraus resultierende gesellschaftliche Wandel.
In der Technikphilosophie und -soziologie wird beispielsweise argumentiert, dass die datengetriebenen Technologien nichts Geringeres als den Sinn von Technik selbst verschieben – weg von einem objekthaften und mechanischen Begriff hin zu dem, was Bruno Latour „Akteur“ oder Gilbert Simondon die „offene Maschine“ nennen: digitale, rechnergestützte Subjekt-Objekt- und Objekt-Objekt-Kopplungen, das heißt komplexe technische Gefüge menschlicher und nichtmenschlicher Entitäten, intelligente und lernende Algorithmen, die mit tradierten Theorien von Maschinen, Werkzeugen oder Instrumenten kaum oder gar nicht mehr zu beschreiben sind.
Diese Verschiebungen werfen soziale, politische und ethische Fragen globalen Ausmaßes auf. Die beschleunigte Verdatung der Gesellschaft rüttelt an den Grundpfeilern hergebrachter Ordnungsstrukturen, Deutungshoheiten und Machtgefüge. Benjamin H. Bratton, der ebenfalls mit einem Beitrag in diesem Heft vertreten ist, hat mit seinem Buch The Stack – On Software and Sovereignty das theoretisch bisher ausdifferenzierteste Modell vorgestellt, in dem viele der zuvor skizzierten Aspekte miteinander verflochten werden. Jenseits tradierter horizontaler Organisationsprinzipien des Sozialen, beispielsweise durch Staatsflächen und Grenzlinien, entwirft Bratton ein vertikal organisiertes Gegenmodell der Organisation durch technische Plattformen. Das Bild des „Stack“ für eine Welt als Datenbank verbindet eine große Zahl einzelner Phänomene der Big-Data-Technologien in sich und illustriert so die verschiedenen, nicht nur territorialen Machtverschiebungen durch planetare technische Infrastrukturen (siehe dazu auch den Beitrag von Keller Easterling).
Unbeantwortet bleibt bisher, welche Perspektiven sich für die Gestaltung dieser Datengesellschaft ergeben. Auch die Frage nach den Möglichkeiten des kritischen Denkens und den zivilgesellschaftlichen Interessen bleibt ungeklärt. Es scheint erforderlich, sich im kritischen Rückgriff auf die Epoche der Kybernetik (siehe den Beitrag von Georg Vrachliotis) intensiver mit dem emanzipatorischen Potential von Big-Data-Technologien auseinanderzusetzen.
In Anlehnung an die theoretischen und medienexperimentellen Methoden von György Kepes müsste es heute um die gemeinsame Suche nach innovativen Gestaltungsstrategien gehen, um die komplexen Verdatungsprozesse und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen sichtbar und sinnlich erfahrbar zu machen. Kepes, der mit László Moholy-Nagy am New Bauhaus in Chicago unterrichtete und später das Center for Advanced Visual Studies (CAVS) am MIT gründete, galt in den 1950er- und 60er-Jahren als internationale Schlüsselfigur für experimentelle Forschung zwischen Wissenschaft, Kunst und Technik. Ziel seiner Arbeit war die Integration von ästhetischer Erfahrung, wissenschaftlicher Erkenntnis und kritischem Denken. Die als unanschaulich geltende Welt von Technik und Wissenschaft sollte durch interdisziplinäre Strategien begreifbar gemacht werden, damit der Mensch sich in dieser (wieder) orientieren und sie sich intellektuell aneignen kann.
Man sollte jedoch dabei nicht in die Falle tappen, die bereits Walter Gropius mit der Forderung nach der Einheit von Kunst und Technik ausgelegt hat. Was wir von Kepes lernen können ist weniger die Verschmelzung der Sphären, die letztlich nur der Legitimierung der technischen Seite diente. Vielmehr gibt er uns den Hinweis, dass wir unsere Ausgangsthese, weniger Gestaltung sei möglicherweise befreiend, korrigieren oder präzisieren müssen: Denn ob wir wollen oder nicht, die Welt ist gestaltet, bis in die Algorithmen und Genome hinein. Wir können dieser gestalteten Welt nicht entkommen und brauchen dementsprechend Gestaltung, mehr denn je. Die Aufgabe der Gestaltung heute wäre es jedoch, die komplexen Zusammenhänge offenzulegen, die enorme Ausbeutung von Mensch und Natur, die hinter scheinbar alltäglichen Dingen wie der Nutzung einer App stehen, sichtbar zu machen, statt sie hinter einem beruhigenden Minimalismus zu verschleiern (siehe dazu den Beitrag von Kate Crawford und Vladan Joler). Keine Beruhigung mehr. Die Aufgabe einer kritischen Gestaltung wäre es, das Verhalten zu verändern, indem sie mit gestalterischen Mitteln den Aufschrei der 16-jährigen Klimaaktivistin Greta Thunberg übersetzt: „Ich will, dass Ihr in Panik geratet!“
Wenn wir bequem vom Sessel aus rufen: „Alexa, mach das Licht an“, wollen wir die technologische Unruhe verheimlichen und uns selbst mit dem tradierten Verständnis von Herr und Knecht beruhigen. Doch, wie Beatriz Colomina und Mark Wigley schreiben, haben nicht wir das Smartphone in der Tasche, sondern umgekehrt. Wir leben bereits in Datatopia und müssen endlich in einen aufklärerischen Dialog von Mensch und Maschine treten, bei dem es um nichts Geringeres als um die Ansage gehen muss: „Alexa, sag mir die Wahrheit!“
Anh-Linh Ngo, Christian Hiller (ARCH+/Kuratoren-team projekt bauhaus)
Georg Vrachliotis (Gastredakteur/KIT Summer School Datatopia)
Armen Avanessian, Victoria Ivanova (Co-Kurator*innen projekt bauhaus Werkstatt)
Angelika Hinterbrandner, Alexander Stumm (Projektleitung); Nora Dünser, Mirko Gatti, Max Kaldenhoff, Melissa Koch, Alexandra Nehmer, Christine Rüb, Jann Wiegand (ARCH+)
Jesko Fezer, Philipp Oswalt, Joanne Pouzenc, Jan Wenzel (Kuratorenteam projekt bauhaus); Katja Szymczak (Projektleitung projekt bauhaus)
Mit großem Dank an: Kulturstiftung des Bundes, Bundeszentrale für politische Bildung, Schering Stiftung, Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa, Volkswagen Stiftung, raumlaborberlin